Freitag, 12. Februar 2021
Selbstmord
Gestern wurde ich dahingehend informiert, dass sich mein umsatzstärkster Rikscha-Stammkunde am Montag das Leben genommen hat. Er ordnete zuhause alle seine Sachen, legte sein Testament auf den Tisch, verliess das Haus, spazierte auf einen nahen Hügel, bestieg den Aussichtsturm und sprang von da in den Tod.
Wirklich überrascht war ich nicht.
Schon in meinem ersten Rikschajahr lernte ich ihn kennen und bis Ende 2018, also über sechs Jahre, war er mein treuster Stammkunde. Es gab Wochen, an denen er mich täglich buchte. Natürlich war das Rikschafahren eine Nebensache. Ihm ging es um Begleitung und Unterhaltung. Er war Alkoholiker. Kein Komma-Säufer, sondern ein regelmässiger Trinker, der von morgens bis abends einfach ein gewisses Alkohol-Level benötigt um durch den Tag zu kommen. Und: er war reich. Er konnte es sich locker leisten, meine Anwesenheit gut zu bezahlen. Wir fuhren also verschiedene Restaurants und Bars an, wo er mich einlud, wo wir quatschten oder Schach spielten.
Natürlich lernt man sich über die Jahre etwas kennen. Und doch ist es schwierig jemanden kennenzulernen, wenn er immer leicht benebelt ist. Man weiss dann nie so genau, was nun aus dem Inneren kommt, oder was Ausdruck seiner Sucht ist. Sehr rasch ist mir jedoch aufgefallen, dass er ziemlich alleine und verloren ist. Alle Menschen, die ich in seinem Zusammenhang kennenlernte, waren finanziell in irgendeiner Art von ihm abhängig oder schnorrten ihn immer wieder um Geld an. Da er sehr viel Geld geerbt hatte und eigentlich ein grosszügiger Mensch war, unterstützte er so ziemlich jeden in seinem Umfeld. Und ja, ich war auch einer von denen, die hauptsächlich an seinem Geld interessiert waren.
Denn ganz ehrlich: Er war zwar meist grosszügig und nett, doch er konnte auch ein richtig egozentrisches Arschloch sein. Einfühlungsvermögen war nicht seine Stärke. Alles drehte sich immer um ihn und um seine Probleme. Und an diesen Problemen waren natürlich immer andere schuld. Der strenge Vater, die gemeinen Brüder, die fiesen Kollegen, die Nachbarn, wer auch immer. Nur er war nie schuld, war immer das Opfer. Das war schon oftmals ziemlich ermüdend.
Vor seiner frühzeitigen Pensionierung war er als Lehrer tätig und ich glaube sogar, dass er ein richtig guter Lehrer war. Das war vermutlich vor dem Alkohol. Über die Pensionierung hinaus blieb ihm das lehrerhafte. Er hat mich sprachlich immer wieder korrigiert, hat mir den Unterschied zwischen scheinbar und anscheinend mehrfach erklärt (was wir Schweizer ganz generell immer wieder falsch verwenden). Das fand ich irgendwie herzig.
Erstaunt stellte ich immer wieder fest, wie wenig er vergessen kann und wie stark sein Leben von der Vegangenheit geprägt war. Immer wieder brachte er uralte Probleme zur Sprache, die ihn immer noch beschäftigen. Damit hatte ich so meine Mühe, denn es entspricht so gar nicht meiner Lebenssicht. Vergangenes ist vorbei! Man muss loslassen und sich davon befreien können. Es bringt einem gar nichts, wenn man solch kalten Kaffee immer wieder aufwärmt. Das habe ich ihm auch immer wieder gesagt, doch es war offensichtlich, dass er solche Ratschläge nicht annehmen konnte. Auf mich machte er oft den Eindruck, dass er die bösen Geister aus der Vergangenheit einfach nicht los wird und sie nur mit Alkohol abschwächen und unterdrücken kann.
Für mich war er der lebende Beweis, das Geld allein nicht glücklich macht. Er hatte keine Kinder, keine Frau für die er verantwortlich war. Mit dem vielen Geld hätte er sich so vieles, wenn nicht fast alles ermöglichen können. Aber nein, er wälzte lieber die immer gleichen, uralten Probleme und ertrank diese in Alkohol. Immerhin: Er war ein Feinschmecker und ass nur in den besten Restaurants, mit ausgezeichneter Küche. Nur ist eines der Probleme von Alkoholikern, dass sie nicht viel Appetit haben. Nach wenigen Bissen hatte er oft genug und trank lieber noch ein Glas Wein... So wurde er über die Jahre immer dünner, ja mager, was auch nicht gerade gesundheitsfördernd ist.
Und wie es denn so kommt, melden sich irgendwann gesundheitliche Probleme. Magenprobleme, eine angegriffene Leber, dies und das. Weil ihm jeder Arzt irgendwann sagte, dass dies eine Folge seines Alkoholkonsums sei, wechselte er dauernd den Arzt, bis es dann einfach offensichtlich war. Im Herbst 2018 stand er vor der Wahl, sich in absehbarer Zeit zu Tode zu trinken oder mit dem Trinken aufzuhören. Zu meiner Überraschung schaffte er es tatsächlich aus eigener Kraft, vom Alkohol die Finger zu lassen. Das war dann auch der Zeitpunkt, an dem wir uns aus den Augen zu verlieren begannen. Ich war Teil seines Alkoholikerlebens und von Bar zu Bar fahren und Mineralwasser zu trinken macht nunmal wenig Spass. Wir trafen uns dann noch ab und an um Schach zu spielen, was aber auch immer weniger wurde.
Der Alkohol-Nebel in seinem Kopf nahm ab und die alten Probleme waren immer noch da und drängten nun umso stärker in sein Leben. Obwohl ihm nahestehende Menschen immer wieder professionelle psychologische Beratung nahelegten, konnte/wollte er das nie in Angriff nehmen. Er dachte wohl, dass er das alles selber in den Griff kriegt. Doch dem war nicht so. Ihm dämmerte zudem, wie viele Menschen er in seinem Leben schon vor den Kopf gestossen und abgwiesen hatte. Wie viele Gemeinheiten er, aus seiner eigenen Verwundetheit, ausgeteilt hatte. Das alles riss ihn immer weiter runter.
Und dann kam auch noch Corona. Durch seine Vorerkrankungen und sein Alter gehörte er zwangsläufig zu der Risikogruppe. Also noch mehr Isolation, noch weniger menschlicher Kontakt und somit noch mehr Zeit um in das grosse, schwarze Loch zu fallen. Im Frühsommer des letzten Jahres versuchte er sich, mit Schlaftabletten, das Leben zu nehmen. Er musste sich jedoch im Schlaf übergeben, was ihm ironischerweise das Leben rettete. Trotz viel Zureden war er auch dann nicht bereit um sich psychisch helfen zu lassen.
Tja, am letzten Montag hat nun sein Leben und sein Leiden ein Ende gefunden. Eine tragische Geschichte.
So allgemein sagt man nun: "Möge er seinen Frieden gefunden haben". Oder in der Todesanzeige steht, unter Anderem: "Wo auch immer Du jetzt sein magst, wir wünschen uns von Herzen, dass Du glücklich bist".
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