Seit ich im Frühling 2011 die konventionelle Arbeitswelt verlassen habe, hat mein Leben deutlich an Intensität gewonnen. Dies hat einerseits einen zeitlichen Grund -> ich habe heute mehr freie Zeit als früher und andererseits auch einen finanziellen Grund -> ich habe heute weniger Geld als früher. Diese zwei Hauptpunkte ergänzen sich (für mich) sehr gut. So kann ich besser über mein Leben nachdenken und die knappen Finanzen zwingen mich auch genauer zu überlegen, was ich an Materie wirklich brauche und wofür ich mein Geld ausgebe.
Rückblickend würde ich sagen, dass ich fast ein Jahr brauchte um geistig aus diesem Hamsterrad der Leistungsgesellschaft heraus zu finden. Ich brauchte wirklich lange um zu merken, dass gesellschaftliche Ansichten und Gepflogenheiten sehr wenig mit mir selbst zu tun haben und dass so abstrakte Begriffe wie Erfolg, Sicherheit oder Status nur dazu da sind um uns zu konditionieren, um uns zu perfekt funktionierenden Konsum-Robotern zu machen. Mit einem selbst, mit dem ganz persönlichen Empfinden von Zufriedenheit und Glück hat das alles rein gar nichts zu tun.
Die Entscheidung zukünftig meinen Lebensunterhalt als Rikschafahrer zu verdienen fiel eher blauäugig und leichtfertig. Mir war damals nicht bewusst, dass ich mich mit so einer Entscheidung wirklich vom gesellschaftsfähigen Geschäftsleben verabschiede. Heute weiss ich, dass ich mit über 50 Jahren und mit meinen letzten 4 Jahren wohl nie mehr einen "normalen" Job als Angestellter finden werde. Da bin ich draussen. Erledigt. Das soll jetzt als eine wertfreie Beobachtung verstanden werden. Wie auch immer, dieser Entscheid hat mir viele neue Erfahrungsfelder eröffnet und ist bestimmt ein Hauptgrund dafür dass ich heute sage: Mein Leben hat an Intensität gewonnen.
Wichtig war auch die Erkenntnis, dass das Geld nun hart verdient werden muss und dass am Monatsende rein gar nichts auf dem Bankkonto passiert. Arbeit gegen Geld erlebe ich jetzt wirklich ganz direkt. Keine Arbeit, kein Geld. Und da Rikschafahren naturgemäss eine Schönwetterangelegenheit ist heisst das auch, dass in den Sommermonaten Geld zur Seite gelegt werden muss, damit man die Wintermonate übersteht. Manchmal komme ich mir vor wie ein Eichhörnchen. Ich sammle im Sommer Nüsse, damit ich im Winter etwas zu futtern habe.
Eine Begleiterscheinung von diesem neuen Umgang mit Geld ist die Erkenntnis: Je weniger Geld ich ausgebe, desto weniger muss ich verdienen. Diese Überlegung passt sehr gut zu der Konsumunlust, die ich in den letzten Jahren zunehmend verspührte. Dies kam vor allem daher weil ich merkte, dass ich Dinge zur Kompensation kaufte (neue Mountainbikes um vom Arbeitsfrust abzulenken), oder aus Status-Überlegungen (die "richtigen" Kleider, etc.) oder aus Langeweile, weil das Leben so gleichmässig an einem vorüber zieht. Davon bin ich echt geheilt. Ich definiere mich nicht mehr über Dinge die ich besitze. Davon habe ich echt losgelassen.
Machmal verkehrt sich das Ganze schon fast ins Gegenteil, in Konsumverweigerung. Mich kotzen diese globalisierten Billigangebote derart an, dass ich mich immer mehr davon enthalten will. Das ist meine einzige Macht als Konsument. Ich kaufe nicht oder eben nur sehr gezielt.
Der Umgang mit Zeit und der Umgang mit Geld sind eindeutig die zwei Bereiche, in denen sich bei mir in den letzten Jahren am meisten geändert hat. Zumindest äusserlich. Als Mensch an sich lernte ich in diesen Jahren verstärkt, Unwesentliches von Wesentlichem zu trennen und davon loszulassen. Fragen wie "was brauche ich wirklich?", "bringt mich das weiter?", "entspricht mir das?", "macht mich das glücklich?" stehen zunehmend im Vordergrund. Den Wunsch, mein Leben zu vereinfachen, den habe ich ja schon lange und schon öfters auch in diesem Blog erwähnt. Seit 2011 versuche ich das nun zunehmend konsequenter umzusetzen. Niemand anders kann das für mich tun und "die Gesellschaft" will das schon gar nicht unterstützen oder honorieren, denn es widerspricht dem gängigen Konzept.
So ist es nur logisch, dass ich irgendwann auf die offene Wunde "rauchen" blicken musste. Wer in seinem Leben immer mehr Eigenverantwortung übernehmen will, der widerspricht sich, wenn er seiner Gesundheit so offensichtlich wie durch Rauchen schadet. Ich trage ja auch Verantwortung meinem Körper gegenüber. Das ist mein Raumschiff durch die Zeit und diese dreidimensionale Welt. Das sollte ich nicht leichtfertig zerstören.
So habe ich in den letzten Jahren also von vielen Sachen losgelassen. Dadurch spüre ich mich selbst besser und klarer. Das ist ein wichtiger Punkt auf dem Weg der Selbsterkenntnis. Man muss möglichst alle Hindernisse aus dem Weg räumen, man muss loslassen und verabschieden, alles was nicht mit dem eigenen Selbst zu tun hat oder ihm gar zuwider läuft. Loslassen ist eine grosse Aufgabe und man würde zu Beginn gar nie vermuten, von was man alles loslassen kann. Materielle Dinge oder schlechte Angewohnheiten sind dabei vermutlich die einfacheren Dinge um loszulassen. Zweifel oder falsche Glaubenssätze sind schwieriger.
Wie bei allem im Leben stärkt Übung die Fähigkeit. Beim ersten Loslassen ist man voller Angst und Zweifel. Bein nächsten Loslassen ist es etwas einfacher und man beginnt etwas Vertrauen zu spüren und mit jedem weiteren Loslassen wächst das Vertrauen. Man spürt instinktiv, dass es "richtig" ist. Ich habe in den letzten vier Jahren etliche Male losgelassen und so ist das Vertrauen gewachsen, dass ich auch von den Zigaretten loslassen kann. Ich bin auf gutem Weg...
“Wenn du etwas loslässt, bist du etwas glücklicher. Wenn du viel
loslässt, bist du viel glücklicher. Wenn du ganz loslässt, bist du
frei.”, sagte der theravada-buddhistische Mönch Ajahn Chah.