Der Wecker klingelt um 04:15 Uhr. Ich stehe auf, wasche mir das Gesicht und mache mich auf den Weg in die Küche um etwas zu frühstücken. Unsere zwei Katzen begleiten mich und hoffen, dass auch in ihren Fressnapf etwas abfällt, doch da muss ich sie enttäuschen. Mein Appetit ist nicht riesig und ich bin schon etwas angespannt und nervös. Danach wieder hoch ins Badezimmer um in die Radklamotten zu wechseln. Ich bin positiv und schmiere mich gleich noch mit Sonnencreme ein. 😎
Im Bikekeller ein letzter Check. Habe ich wirklich alles? Sieht gut aus. Also Helm aufsetzen, Handschuhe anziehen und Beleuchtung einschalten. Es ist jetzt kurz vor fünf Uhr am Morgen und ich habe genug Zeit um gemütlich zum Bahnhof am Flughafen Zürich/Kloten zu fahren. Es ist noch ziemlich frisch und doch sehr angenehm. Natürlich bin ich dann zu früh am Ziel und vor dem Abgang zum Perron schiesse ich dann das erste Foto.
Die Fahrt zum Zürcher Hauptbahnhof dauert nicht lange und auch der Umstieg in den InterRegio 43 mit Endziel Locarno geht ganz einfach. Wir finden auch gleich ein Abteil mit zwei freien Velostellplätzen. So früh am Morgen ist das noch kein wirkliches Problem. Dann haben wir Zeit um etwas zu plaudern und die Fahrt in die Innerschweiz und über den Gotthard zu geniessen. Dieser Zug fährt auf der alten Panoramastrecke, also hoch bis nach Göschenen und von dort durch den alten Eisenbahntunnel bis nach Airolo. Natürlich fotografiere ich die Kirche von Wassen, die man dank den drei Kehrtunnels eben auch drei Mal zu Gesicht bekommt. Die Ingenieurskunst dieser über 100-jährigen Bahnstrecke sind auch heute noch beeindruckend.
Auf der Alpensüdseite war der Himmel dann stärker bewölkt als auf der Nordseite. Doch das irritierte uns insofern nicht, weil der Wetterbericht ja sagte, dass es morgens noch stark bewölkt sei und dann im Tagesverlauf immer besser werde. Sollte also passen. Doch so richtig an die Prognose schien sich das Wetter heute nicht zu halten, denn an unserem Zielort, in Bellinzona waren die Strassen nass und es tropfte auch ganz leicht. Ehrlich? Regen? Muss das wirklich sein? Ich habe doch gestern die Regenjacke wieder ausgepackt… War wohl keine brilliante Idee. 🤔
Vor dem Bahnhof machten wir uns bereit, starteten das GPS und machten uns dann auf den Weg in Richtung San Bernardino. Das Abenteuer beginnt! Glücklicherweise hatte Petrus ein Einsehen und schon bald war es trocken und auch temperaturmässig sehr angenehm. Noch war das Tal weit und die Steigung kaum merkbar, ideal um einzurollen und die Muskeln zu aufzuwärmen. Wir wussten ja, dass es bis etwa Kilometer 30 ziemlich harmlos berghoch geht und die eigentliche Passfahrt erst dann beginnt. Unsere erste Pause machten wir in der Nähe von Lostallo, bei Swisslachs.ch, einer Indoor-Lachs-Aufzucht, welche uns mit einem hübschen Hofladen im Vorgarten mit Getränken und natürlich mit Lachs-Degustation und -Verkauf zum Halt animierte. Ein Lachsbrötchen und lokale Limonade war lecker und machte gute Laune. 🐟
Das nächste Foto gab es dann bei einem Wegweiser. Wobei, die darüber angebrachte Informationstafel weckte mehr unser Interesse: Steigt 1'500 Höhenmeter auf 26 Kilometer. O.K. Jetzt geht es dann also so richtig los! Ein erster Vorgeschmack waren die letzten Kilometer vor der Ortschaft Misox. Hier war eigentlich unser Mittagshalt geplant, doch das Lachsbrötchen sättigte so gut, dass wir uns zur Durchfahrt entschieden. Und siehe da: Praktisch beim Ortsausgang zweigten wir auf eine kleine Nebenstrasse ab und die eigentliche Steigung begann.
Es war nun also wichtig einen guten Rhythmus zu finden, so dass man die körperliche Belastung stundenlang durchhalten kann. Leider war die Sicht durch viele Wolken getrübt, dennoch war der Anstieg sehr angenehm, weil nahezu verkehrsfrei. Man war immer nahe an der Hauptverkehrsachse der San Bernardino Route und so hörte man immer die Autos vorbeirauschen. Na ja, das Tal ist mittlerweile so eng, da hat es einfach nicht mehr viel Platz und es ist schon so erstaunlich, wie viel Verkehrsinfrastruktur hier in die Berge gebaut wurde. Immer wieder Brücken, Tunnels und Galerien.
Auch die historischen Unterschiede sind deutlich sichtbar. Wir fuhren vermutlich auf den kleinsten und ältesten Wegen, die später einmal asphaltiert wurden und heute eigentlich nur noch von landwirtschaftlichen Fahrzeugen genutzt werden. Später kamen die Autos auf und dafür wurden neue Strassen gebaut (die heutigen Kantonsstrassen, die nur noch wenig und vor allem von Einheimischen genutzt werden). Als der Verkehr immer stärker zunahm baute man dann die meist mehrspurige Schnellstrasse und den Autotunnel für den Transitverkehr und da ist heute am Meisten los.
Einer der Vorteile des persönlichen Alterns ist die Erfahrung. 😉 Wir wissen: In der Ruhe liegt die Kraft! Bei langen Anstiegen heisst das: Lieber zu langsam als zu schnell fahren, gleichmässig atmen, zwischendurch in den Wiegetritt wechseln um die Muskulatur anders zu belasten und gleichzeitig die Sitzknochen zu entlasten, regelmässig essen und trinken und deshalb auch regelmässige Pausen einlegen. Dann klappt das schon.
Ich hätte mir besseres Wetter gewünscht, doch die Wolkendecke wurde immer dichter und zeitweise fielen auch wieder ein paar Tropfen. Die Aussicht wurde zunehmend schlechter und wenn man berghoch blickte, konnte man keine Berggipfel sehen, sondern man schaute von unten an eine Wolkendecke. Der Ort San Bernardino bietet sich dann für eine etwas längere Pause an. Wir machten bei einem Restaurant Halt, tranken kohlensäurehaltige Süssgetränke und gönnten uns Schinken-Käse-Toast.
Während dem Essen mussten wir feststellen, dass die Regentropfen zunahmen und sich daraus ein leichter Regen entwickelte. Bei San Bernardino startet der Autotunnel und von da bis zur Passhöhe warten noch 460 Höhenmeter auf 8 Kilometer Strecke. Mit dem Velo wohl noch etwas mehr als eine Stunde Fahrzeit. Wir sind zeitlich gut dran und die Motivation stimmt auch; trotz des Regens. Glücklicherweise ist es nicht kalt und so werde ich zwar nass, doch zumindest berghoch beginne ich nicht zu frieren.
Die Szenerie wird zunehmend gespenstisch. Wir fahren mitten in die Wolkendecke. Der Regen nimmt zu und die Sichtweite fällt auf unter 50 Meter. Es begegnen uns viele Motorradfahrer und ein paar wenige Automobilisten. Wegen der immer schlechter werdenden Sicht montieren wir wieder die Beleuchtung an unsere Räder, damit wir auf der engen und kurvenreichen Strasse besser zu sehen sind. Das alles ist wirklich sehr speziell. Schade einfach, dass wir von der alpinen Landschaft so überhaupt nichts mitbekommen und auch keine tollen Panorama-Ausblicke geniessen konnten.
Wir waren dann schon fast überrascht, als aus dem Nebel die Passhöhe auftauchte. Das Restaurant Hospitz war menschenleer und vor der Passtafel standen nur ein paar wenige Velo- und Motorradfahrer, die ein Gipfelfoto (zum Beweis) machen wollten. Mit einem anderen Radfahrer tauschten wir uns über die Wettersituatiuon aus und waren froh als er berichtete, dass es erst auf den letzten 200 Höhenmetern zu regnen begann und sonst das Wetter auf der Nordseite doch ansprechend gut sei.
Es war nass, neblig und auf über 2'000 Metern über Meer nun auch kalt und somit hatten wir keinen Grund um länger hier zu bleiben. Ich zog meine leichte und noch trockene Jacke an und wir stürzten uns in die Abfahrt. Die 400 Höhenmeter bis nach Hinterrhein waren rasch vernichtet, doch nun hatte ich wirklich kalt. Das nassgeschwitzte Trikot und der zügige Fahrtwind haben mich ziemlich runtergekühlt. Wir beschliessen deshalb, uns im nächstbesten Restaurant bei einem heissen Latte Macchiato etwas aufzuwärmen. Das hat dann glücklicherweise auch gut geklappt und so konnten wir die noch etwa 15 Kilometer bis zu unserem Hotel in Angriff nehmen.
Diese letzte Stunde hat dann noch für Einiges entschädigt. Auf der Nordseite war das Wetter wirklich deutlich besser, es zeigte sich sogar vermehrt die Sonne und wir konnte entlang des Rheins auch viele schöne Wanderwegs/Singletrails fahren. Natürlich mussten wir unterwegs zwei oder drei Mal absteigen und etwas schieben oder tragen, doch auf alpinen Wanderwegen ist so etwas auch nicht zu vermeiden. Ganz zum Schluss kamen wir am Ufer des Sufersees entlang und die tiefstehende Abendsonne glitzerte kitschig übers Wasser. Wir waren müde und zufrieden, als wir vor das gebuchte Hotel Seeblick bei Sufers vorfuhren. Was für eine Tour! Das GPS sagt: 82 km, 6:08 Std., 2'075 Hm
Das Hotel war eine gute Wahl. Eine Garage für die Fahrräder, ein schönes und grosses Zimmer, gutes Essen und sehr freundliches Personal. Und das alles zu vernünftigen Preisen. Nach dem Abendessen mit zuhause telefonieren, dann noch etwas quatschen und schon früh die Lichter löschen. Ich danke dem Schicksal, dass wir gesund und wohlbehalten angekommen sind. Das war ein Supertag!
Gelernt: Egal ob eine 2-Tages- oder Mehrtages-Tour und egal was der Wetterbericht sagt: Eine Regenjacke gehört zwingend ins Gepäck!