Dienstag, 13. Januar 2015
instabiles Gleichgewicht
Ich habe mir noch weitere Interviews mit Herrn Dr. Dürr angesehen und bin von seinen Aussagen wirklich beeindruckt. Er sprach Sachverhalte aus, die ich vielleicht erahnte aber selbst nie so artikulieren könnte, weil mir dafür der intellektuelle Horizont fehlt. Das Beste daran ist jedoch, dass er mir ein paar Schuldgefühle diesbezüglich genommen hat. Meine bisherigen Erfahrungen und meine gemachten Interpretationen sind vielleicht nicht so tiefgründig oder wissenschaftlich fundiert, aber, sie scheinen in die richtige Richtung zu gehen. Und dieses Gefühl, welches mir diese Interviews vermittelt haben, tut mir gut.
z.B. mein Misstrauen bezüglich der Absolution des Verstandes. Die Aussage: "wir erleben viel mehr als wir je begreifen können." trifft bei mir auf offene Ohren. Es stützt auch eine schon früher geäusserte Aussage von mir, dass oftmals das 100%ige Gegenteil dessen, was wir sagen genau so richtig ist, wie das, was wir sagen. Sobald wir etwas artikulieren, spalten wir es auf in Beschreibbares und Unbeschreibbares. Es entspricht nicht mehr der Wahrheit sondern höchstens noch der Realität. Das Leben ist viel mehr, als wir je verstehen können. Denn unser Verstand ist dafür gemacht uns physisch am Leben zu halten, zu ernähren, zu kleiden und nicht unbedacht dumme Entscheidungen zu treffen. Doch er ist nicht dafür gemacht, das Leben oder den Sinn des Lebens zu verstehen.
Das heisst letztendlich, dass wir uns immer mehr von der Lebendigkeit entfernen, je verstandesorientierter wir leben. Dafür ist meine eigene Vergangenheit doch ein prächtiges Beispiel. Meine 25 Bürojahre waren geprägt von verstandesorientierten Handlungen. Alles war möglichst vernünftig organisiert und das vermittelte mir ein Gefühl von Sicherheit. Doch dabei kam mir das Leben, die Lebendigkeit abhanden. Ich fühlte mich zunehmend als Zahnrad einer grossen Maschine und funktionierte mehr als ich lebte. Mit meinem Schritt aus diesem "alten" Leben in die Selbständigkeit als Rikschafahrer (einer -zumindest in der Schweiz- noch undefinierten Berufsart) erhöhte sich schlagartig die Unsicherheit und dadurch die Lebendigkeit. 2012 und 2013 habe ich öfters von dieser Unsicherheit geschrieben.
Der Verstand hat mir sehr geholfen um grosse Fehler zu vermeiden und das ganze Experiment auf ein Niveau zu bringen, von dem ich mich ernähren und kleiden kann. Das prickelnde Gefühl der Lebendigkeit und die Neugier auf das, was denn nun als Nächstes passiert, dies wurde nicht vom Verstand erzeugt. Der Verstand hat also durchaus seinen Wert, doch es muss ihm der richtige Platz zugewiesen werden. Verstehen und Wissen ist gut um gemachte Fehler nicht zu wiederholen. Das prickelde Lebensgefühl kommt jedoch von wo anders, nämlich von Ahnung, Intuition, Inspiration, Gefühl und neue-Erfahrungen-machen, ja, das ist Leben. Wenn ich mich also für die Leben-Seite entscheide, so entscheide ich mich automatisch für die Unsicherheit. Denn verstehe: Sicher ist nur der Tod!
Natürlich muss ich an diesem Punkt auch die Angst erwähnen, die mich -zumindest am Anfang- sehr stark begleitet hat. Ich hatte Angst zu versagen, komplett zu scheitern und dass dann all die Mitmenschen recht kriegen, die mir vor dem Sprung ins kalte Wasser (der Unsicherheit) dringend abgeraten haben. Ja, diese Angst ist real und zeitweise ist sie schwer auszuhalten. Man ist nicht immer kraftvoll und motiviert um neuen Situationen und Erfahrungen zu begegnen. Man sehnt sich auch mal zurück in die alte Komfortzone der (leblosen) Sicherheit. Das ist ganz normal. Aber, und jetzt kommt es: Wenn man ins kalte Wasser springt, lernt man ziemlich schnell schwimmen. Man sinkt nicht einfach wie ein Stein. Ein Mensch ist lebendige Materie und verfügt über natürlichen Auftrieb. Dass man ab und zu Wasser schluckt gehört dazu, doch naturgemäss geht man nicht einfach so unter. Wenn man Ruhe bewahrt merkt man auch bald, dass man gar nicht wie wild paddeln muss um sich über Wasser zu halten. Mit der Zeit steigt dann das Vertrauen und man beginnt das Schwimmen zu geniessen. Und mit steigendem Vertrauen versucht man später dann vielleicht sogar zu tauchen (um weitere, neue Erfahrungen zu machen).
Was mich nun wieder zu einer der Kernaussagen von Dr. Dürr zurück kommen lässt: "Gesteigerte Lebendigkeit erleben wir durch Hingabe, durch Sensibilität, durch die Herstellung eines instabilen Gleichgewichts". Als Physiker demonstriert er diesen Zustand des instabilen Gleichgewichts an einem Pendel. Ich interpretiere dies in der Hinsicht, dass wir uns immer wieder voller Vertrauen und Hingabe in neue Situationen begeben und das Leben geschehen lassen. Voller Sensibilität Unsicherheit erfahren und erleben, was passiert. Wir wissen nicht, was passiert aber etwas wird passieren, denn das Leben ist nie gleich und immer passiert etwas. Wir sollen auch nicht versuchen, etwas willensmässig passieren zu lassen (das funktioniert eh nicht, da man nur wollen kann was man schon kennt, und somit ist es nicht mehr neu). Vertrauen darauf, dass man nicht ertrinkt und somit den Sprung ins kalte Wasser wagen. Verstehen, dass man Teilnehmer/Teilhaber an einem grösseren Ganzen ist. Wie sagt er so schön: "Man kann es verstehen aber nicht begreifen." Weise Worte.
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Kommentare
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Arjun Jois am :
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Arjun Jois