Wer viel Fahrrad fährt, legt Wert auf eine Sitzposition, die sich auch nach mehreren Stunden im Sattel noch halbwegs komfortabel anfühlt. Man könnte annehmen, dass dies grundsätzlich nicht so schwierig sein kann, denn zwischen Fahrer und Bike gibt es nur drei Kontaktpunkte. Die Füsse auf den Pedalen, die Hände am Lenker und den Hintern auf dem Sattel. Wenn diese Punkte im richtigen Abstand angeordnet und auf die eigene Körperproportionen abgestimmt sind, dann sollte es passen. Soweit die Theorie.
In der Praxis gibt es jedoch höchstens eine (ziemlich) festehende Grösse und das ist die Distanz zwischen dem Sattel und den Pedalen. Der Sattel gehört auf die Höhe, in der man beim Pedalieren, die Beine zu etwa 98% durchstreckt, ohne beim Kurbeln mit dem Becken hin und her zu schaukeln. Das lässt sich relativ einfach ermitteln. Man setzt sich aufs Bike, lehnt dabei an eine Wand an, stellt die Fersen auf die Pedale und stellt die Sattelhöhe so ein, dass die Beine am jeweils tiefsten Punkt durchgestreckt sind. Wenn man sich danach mit der Fussmitte (oder etwas weiter vorne in Richtung Fussballen) auf das Pedal stellt, wird das Bein an der tiefsten Kurbelposition nicht mehr vollständig durchgestreckt. Natürlich gibt es dazu auch eine Rechenformel. Sie lautet: Schrittlänge (also von Schuhsohle bis zum Damm) multipliziert mit 0,88. Bei mir also: 91cm x 0,88 = 80cm Das soll der Distanz zwischen Sattelmitte und der Mitte des Innenlagers/Tretlagers entsprechen und ja, bei mir stimmt das ziemlich genau. Mit 80cm Sitzhöhe sitze ich gut und kann kraftvoll treten.
Eine grössere Schwierigkeit ist, die richtige Position des Lenkers zu finden, denn dies ist von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig. Angefangen von der bevorzugten Fahrweise. Will man schnell und aerodynamisch fahren, bevorzugt man eine tiefe Lenkerpostition (siehe Rennrad). Will man nur etwas in der flachen Stadt herumcruisen, sitzt man lieber aufrecht um eine gute Übersicht und möglichst wenig Gewicht auf den Händen zu haben (siehe Holland-Rad). Neben der angestrebten Fahrweise spielt hier aber auch das Alter des Fahrers, dessen Beweglichkeit im Beckenbereich und der Stärke seiner Rumpfmuskulatur eine Rolle.
Als ich vor über 25 Jahren mit dem Mountainbiken anfing, bevorzugte ich den Lenker in etwa 4-8cm unterhalb des Sattels. Mittlerweile ist mir das zu tief. Nun fahre ich Lenker und Sattel in etwa auf gleicher Höhe oder den Lenker noch leicht höher als der Sattel. Trotz der Erhöhung des Lenkers kämpfte ich in den letzten Jahren zunehmend mit einschlafenden Fingern, was ein Zeichen dafür ist, dass zu viel Gewicht auf den Händen lastet. Ich brauchte die Hände also nicht nur zum manövrieren, sondern auch um einen Teil meines Gewichts abzustützen. Das hat nicht nur mit den Höhen von Sattel und Lenker zu tun, sondern auch mit dem Sitzwinkel. Also der horizontalen Position zwischen Sattel und Innenlager.
In den letzten Jahren neigte die Bikeindustrie dazu, den Sitzwinkel zu vergrössern. Waren früher 72° oder 73° normal, haben heute viele Bikes Sitzwinkel von 74°, 75° oder noch mehr (also immer steiler). Das heisst, der Sattel befindet sich horizontal näher am Innenlager was zur Folge hat, dass man im Sitzen automatisch mehr nach vorne kippt und somit einen Teil des Körpergewichts über die Hände abfangen muss (egal, wie hoch der Lenker liegt). Wenn der Sattel weiter nach vorne kommt, muss zur Kompensation das Oberrohr länger werden, damit die Distanz zwischen Sattel und Lenker in etwas gleich bleibt. Zu den längeren Oberrohren kamen dann flachere Lenkwinkel dazu. Diese Geometrieveränderungen sind nicht schlecht. Sie helfen einerseits wenn es steil berghoch geht (weil man zentraler und weiter vorne sitzt) und sie machen das Bike bergrunter stabiler und laufruhiger (weil mit längerem Oberrohr und flacherem Lenkwinkel sich der Radstand zwangsläufig verlängert).
Lange Rede, kurzer SInn: Ich kämpfte also mit einschlafenden Fingern und experimentierte mit verschiedenen Lenkerhöhen und -formen, bis ich eine akzeptable Position gefunden habe. In freien Stunden habe ich auf YouTube verschiedene Bike-Fitting-Videos angeguckt und irgendwann bin ich bei "Lee likes bikes" angelangt. Er leitet Fahrtechniktrainings in den USA und stellte fest, dass immer mehr Kunden auf zu langen/grossen Bikes bei ihm aufschlugen. Er hinterfragte das Ganze und kam dann auf R.A.D. = Rider Area Distance. Dies bezeichnet den Raum, den ein Fahrer benötigt um sein Bike mit möglichst wenig Kraftaufwand zu steuern. Nach unzähligen Messungen und Vergleichen definierte er zwei Masse, die man zur Beurteilung eines Bikes nutzen kann um einfach herauszufinden, ob einem das Bike grundsätzlich passt oder nicht.
Der erste Wert ist der "Reach" also die Reichweite (siehe Bild oben). Dieser Wert wird in praktisch jeder Geometrietabelle eines Bikes angegeben und ist das horizontale Mass zwischen Mitte Innenlager/Tretlager und Mitte Steuerlager. In meinem Fall mit 192cm Körpergrösse ergibt der R.A.D. 192 x 2,5 = 480mm Reach. Laut TREK-Geometrietabelle hat das 1120 in XL einen Reach von 471mm und liegt somit also eher auf der wendigeren R.A.D Minus Seite (192 x 2.45 = 470mm). Das passt also schon mal recht gut.
Kommen wir zum zweiten R.A.D.-Wert. Hier wird die Distanz von Mitte Tretlager bis zur Mitte der Griffposition am Lenker gemessen. Um den Zielwert zu erhalten, stellt man sich parallel zu einer Wand auf. Man steht möglichst gerade, senkt die Schultern ab, nimmt einen Filzstift in die Faust und macht mit dem gestreckten Arm eine Markierung an der Wand. Dann misst man die Distanz ab Boden bis zur Markierung. In meinem Fall ergeben sich daraus 91,5cm. Die Kontrollmessung am Bike zeigte 94cm. Das heisst: Mein Lenker ist tendenziell zu weit weg.
Gestern Morgen kramte ich in meiner Ersatzteilkiste und fand einen Vorbau, der 20mm kürzer ist, als der Montierte. Wenn ich den montiere, komme ich doch recht nahe an den Zielwert heran. Also gesagt, getan. Auf der Bikerunde fühlte sich das Ganze gut und richtig an. Mit einem kürzeren Vorbau wird das Lenkverhalten etwas quirliger und es war anzunehmen, dass ich in steilen Uphills etwas mehr Mühe bekunden werde, weil nun ja zwangsläufig mein Schwerpunkt weiter hinten liegt. Auch deshalb baute ich in die gestrige Tour zwei fies steile Rampen ein, an denen ich immer zu kämpfen habe. Natürlich ging es auch mit dem angepassten R.A.D. nicht von selbst hoch, doch ich stellte auch keinen negativen Effekt fest. Was ich während der zweieinhalb Stunden Tour jedoch deutlich merkte ist, dass sich die Belastung auf den Händen durch die 2cm kürzere Distanz zwischen Sattel und Lenker doch spürbar reduziert hat.
Natürlich ist diese R.A.D.-Geschichte nun auch nicht der heilige Gral des richtigen Bike-Fittings, doch es scheint einem doch ein paar einfache Masse an die Hand zu geben, mit denen man recht einfach die Geometrie eines Bikes beurteilen (und für sich anpassen) kann. Hier noch die Links zu den zwei Videos von "Joy of Bike". Video eins und Video zwei.