Ich versuche möglichst jede Woche meine Mutter im Altersheim zu besuchen. Das fällt mir nicht leicht, denn ich finde die ganze Szenerie jedes Mal bedrückend und trostlos. Altersheime sind die "Wartezimmer des Todes"... Hier kommst Du nicht mehr lebend raus...
Vermutlich wollen die wenigsten Betagten von sich aus in ein Altersheim. Die meisten werden von Angehörigen in ein Altersheim gebracht, weil das bisher normale, selbständige Leben nicht mehr möglich ist. Das war auch bei meiner Mutter so. Nach dem Tod meines Vaters verlor sie schleichend ihren Lebensmut. Sie war verloren ohne ihn und dann kam auch noch die Corona-Pandemie, die ihr soziales Leben vollständig zum Erliegen brachte. Sie wurde vergesslich, liess sich zunehmend gehen, kümmerte sich um nichts mehr, kochte nicht mehr, putzte nicht mehr, vernachlässigte sich selbst und wenn es nicht wirklich sein musste, stand sie gar nicht mehr aus dem Bett auf. Die Situation wurde dadurch auch zunehmend gefährlich (Wohnung in 2.OG).
Meine Schwester und ich haben uns die Entscheidung nicht einfach gemacht, doch so konnte es irgendwann nicht mehr weitergehen und weder sie noch ich hatten eine realistische Möglichkeit um die Mutter aufzunehmen und zu betreuen. Es war auch länger nicht wirklich klar ob Mutter einfach vergesslich wurde, in eine Depression verfiel oder an Demenz litt. Vermutlich war es eine Kombination von Alledem. Wie dem auch sei, ein Hauptproblem war/ist, dass meine Mutter nicht mehr in der Lage war/ist ihren Zustand klar wahrzunehmen und zu kommunizieren. Und somit ist es für alle Anderen vorwiegend ein Vermuten und Rätselraten. Das ist ganz schwierig.
Meine Mutter war nie wirklich eine Stimmungskanone und gehörte schon immer zu den eher zurückhaltenden Menschen. Sie will niemandem zur Last fallen und all das oben Beschriebene liess sie über die letzten Jahre fast vollständig verstummen. Seit geschätzten zwei Jahren antwortet sie nur noch auf direkte Fragen und ihre Lieblingsantworten sind: "Ja", "Nein", "ich weiss es nicht" und "so wie immer". Offene Fragen mag sie nicht und ignoriert sie meist. Von sich aus spricht sie eigentlich gar nicht mehr.
Das macht Besuche natürlich schwierig, denn meist hat man nach fünf Minuten alles halbwegs Erwähnenswerte seit dem letzten Besuch erzählt und dann wird es harzig und still. Spätestens nach zehn Minuten weiss man nicht mehr, was man noch erzählen könnte. Nach 15 Minuten fragt man sich, ob sie den Besuch überhaupt schätzt oder ob es ihr lieber wäre, wenn man sie einfach nur in Ruhe lässt.
Bei meinen Besuchen begleiten mich oft die zwei gleichen Gedanken. Erstens: Ihr Kopf ist leer. Da passiert nichts mehr. Sie erinnert sich weder an das letzte Essen noch daran, wer sie am Vortag besuchte. Und Zweitens: Sie hat abgeschlossen und will eigentlich nur noch sterben. Ja, sie sitzt im Wartezimmer des Todes und wäre bereit um zu gehen.
Dem widerspricht jedoch, dass sie erst 84 Jahre alt und auch körperlich noch akzeptabel fit ist. Da stirbt man nicht so einfach... Aus meiner Sicht kann sie bei guter Betreuung (was gegeben ist) locker noch zehn Jahre leben. Einerseits wünsche ich meiner Mutter natürlich ein möglichst langes Leben, andererseits frage ich mich schon, wo denn da noch Lebensqualität ist. Sie sitzt in ihrem Lesestuhl am Fenster und blickt ins leere Nichts. Sie hat keinerlei Interesse mehr und von sich aus macht sie nichts. Sie wird gekleidet, gefüttert, bewegt und gepflegt. Sie ist ein guter Kunde...
Und so verlief auch der heutige Besuch bei meiner Mutter "so wie immer". Und so wie immer hatte ich beim Gehen ein schlechtes Gewissen. Ich lass sie einfach zurück, im Vorzimmer des Todes. Gibt es keine andere, bessere Möglichkeit? Sind meine regelmässigen Besuche nicht nur eine Entschuldigung für mein schlechtes Gewissen?
Es ist Schwierig... Das sind Lebensabschnitte, die man sich früher nie vorgestellt hat. Man muss diese Widersprüche aushalten und trotzdem versuchen positiv zu bleiben.