Kurz vor neun Uhr schwang ich mich in den Sattel und es ging gleich heftig steil berghoch. Schon nach 800 Metern Wegdistanz hatte ich 70 Höhenmeter zurückgelegt und kam an einen schönen Aussichtspunkt.
Das Wetter war sehr schön, sonnig und angenehm warm. Ich vermisste meine (geklaute) Sonnenbrille. Die gestern neu gekaufte Sonnencreme kam gleich zum Einsatz und konnte zeigen, wass sie kann. Es war ein stetes auf und ab und mir wurde rasch klar, dass es bis ans Ende der heutigen Tour wohl tatsächlich an die 1'000 Höhenmeter geben wird. Es erstaunte mich einfach immer aufs Neue wieder, wie steil hier die Strassen gebaut werden. Ich musste wirklich oft in den allerkleinsten Gang runterschalten um überhaupt hochfahren zu können.
Ich freute mich auf die ersten Live-Besuche der verschiedenen Häuser, die ich mir im Internet ausgeguckt hatte und nach etwa 17 Kilometern kam ich dann zum Ersten, was auch eines meiner Favoritenhäuser war. Ein altes Bauernhaus. Auf zwei Etagen insgesamt knapp 200m2, auf einem etwa 2'000m2 Grundstück. Neben dem Haus ein Garagengebäude und ein Geräteschuppen, dazu einen Brunnen. Das Grundstück war wunschgemäss nach Südwest ausgerichtet und bot eine tolle Aussicht über die Hügellandschaft, mit der Hügelstadt Osimo im Hintergrund. Als ich die Anzeige zum ersten Mal sah, wurde ein Preis von 185'000 Euro aufgerufen. Anfang April wurde der Preis auf 155'000 Euro gesenkt und es wurde ein "Open House Day" durchgeführt. Auf zwei von mir besuchten Immobilien-Plattformen verschwand danach die Anzeige, nur auf einem blieb sie weiterhin online. Es war also nicht wirklich klar, ob das Haus nun verkauft wurde oder nicht.
Als ich mich dem Haus näherte fuhr direkt vor mir ein Auto in die Einfahrt des Grundstücks. Ein Herr stieg aus, öffnete das Tor und fuhr dann direkt vor das Haus. Es war also ein ungünstiger Zeitpunkt um unbeobachtet etwas umherzuschnüffeln. Ich machte von der Strasse aus ein paar Fotos und liess das Ganze etwas auf mich wirken. Ja, hat was. Das Haus ist alt und man muss noch viel Geld hineinstecken, doch das Grundstück liegt wirklich gut und bietet eine tolle Aussicht. Als Minuspunkt könnte ich anführen, dass es für meine Verhältnisse etwas weit vom nächsten Kaffee oder Einkaufsgeschäft wegliegt. Da wird die Idee "morgens mit dem Hund zum Kaffee laufen und mit anderen Ortsansässigen etwas quatschen" kaum möglich sein. Egal. Ich überlegte mir, ob ich aufs Grundstück gehen und diesen fremden Menschen fragen soll, ob er das Haus gekauft hat. Doch dafür fehlte mir schlicht der Mut. Mein Anfängeritalienisch ist für eine solche Konversation einfach noch zu schlecht. (Im späteren Tagesverlauf bereute ich diese Feigheit etwas. Ich hätte ja nur gewinnen können...).
Das zweite Haus war nur etwas mehr als einen Kilometer vom Ersten entfernt, lag aber wirklich zuoberst auf dem Hügel. Das Haus war nur minimal grösser, wie auch das Grundstück, der Preis lag jedoch bei stolzen 219'000 Euro. Direkt vor dem Haus waren Strassenarbeiter am Werk und ein Teil Ihrer Fahrzeuge stand in der Einfahrt zum Grundstück. Also auch hier keine günstige Gelegenheit um über den Zaun zu klettern um sich auf dem Grundstück etwa umzusehen. Schade. Doch ich konnte gut sehen, dass das Grundstück völlig zugewuchert war. Die Nordseite das Hauses war ebenfalls komplett mit Efeu überwachsen. Hmmm... der höhere Preis wird hier wohl einfach durch die noch bessere Lage begründet. Zumal man hier genug nah an bewohntem Gebiet war um eben mit dem Hund Kaffee trinken gehen zu können.
Das machte ich dann auch. Zwar ohne Hund, doch mit dem Velo. San Biagio erschien mir dabei als ziemlich gesichts- oder geschichtsloser Ort. Es sieht alles irgendwie so aus, als sei diese Ortschaft erst in den Boomzeiten der 1950er bis 70er Jahre entstand. Viel Beton, viele Zweckbauten, alles entlang einer geraden, ansteigenden Strasse. Immerhin scheint es hier fast alles zu geben. Ich erspähte rasch einen Supermarkt, mehrere Autogaragen, eine Tankstelle, eine Apotheke und auch einen Hundesalon (könnte man ja irgendwann mal brauchen).
Zwischen San Biago und Osimo liegt ein Tal und fast am tiefsten Punkt dieses Tals kam ich dann zu Haus Nummer 3. Wobei das wohl eher als eine Ruine zu bezeichnen ist. Ein Teil des Hausdachs ist bereits eingestürzt und auch eines der Nebengebäude steht nur noch teilweise. Das Grundstück ist fast quadratisch und etwa 1'700m2 gross. Auch hier gibt es einen Grundwasserbrunnen. Eigentlich war von vorne herein klar, dass dieses Haus nicht in Frage kommt, denn (auch) wir möchten auf einem Hügel und nicht in einem Tal wohnen. Trotzdem. Wenn ich da schon vorbei komme, dann kann ich es mir ansehen, denn für die aufgerufenen 90'000 Euro liegt das definitiv in der Schnäppchen-Liga von "unter 100k€".
Es klingt jetzt vielleicht etwas komisch, doch ich war positiv überrascht. Das Grundstück ist fast flach und das Tal nicht so eng, als dass man sich eingeengt fühlen würde. Hier war die Luft soweit rein, dass ich mich aufs Grundstück schleichen konnte um mir die Sache aus der Nähe anzusehen. Natürlich war alles in einem heruntergekommenen Zustand. Am ursprünglichen Haus wurde später ein Längsbau angefügt und dieser war interessanterweise noch schlechter in Form als das alte Haupthaus. Da konnte man von unten durch die Fenster den Himmel sehen. Hier war also das Dach eingestürzt. Diesen Anbau würde man am Besten gleich ersatzlos abreissen. Das ursprüngliche Haus bietet (für Zwei) genügend Fläche.
Ich sah also "viel Potential"... -> das ist immer so mehrdeutig, wenn jemand von "viel Potential" spricht. Denn je schlechter etwas ist, desto mehr Potential zum Besseren bietet es. Doch durch unsere schweizer Augen betrachtet, muss man so ziemlich jedes alte italienische Haus von Grund auf sanieren, bis wir darin leben möchten. Da haben wir Ansprüche, die angebotsseitig kaum erfüllt werden oder wenn, dann ist das Objekt so teuer, dass wir es uns nicht mehr leisten können. Also ist der Weg, etwas Altes kaufen und sanieren fast die einzige Möglichkeit. Und als ich mir nun diese Ruine anschaute dachte ich, dass auch ein teileingestürztes Dach kein Killerkriterium ist. Ausser den Aussenwänden wird wohl auch sonst kaum mehr viel bestehen bleiben...
Dennoch. Dieses Objekt wird es mit Sicherheit nicht sein. Auch wenn es nur 1,5km von Osimo entfernt liegt. Denn auf diesen 1,5 Kilometern sind auch 100 Höhenmeter zu überwinden. Wie gesagt: Haus unten im Tal, Osimo oben auf den Hügel. Da werde ich mit 70 und mit Hund ganz bestimmt nicht mehr hochgehen.
Osimo erreichte ich kurz nach 12:00 Uhr. Der historische Ortskern ist ein ausgesprochen schönes Hügeldorf, welches durch die rundherum angebauten Quartiere zu einer Stadt angewachsen ist. Auf der Südwestseite gibt es eine schöne Parkanlage, wo ich mich im Schatten von grossen Bäumen mit Piadina und Cola verpflegte. Die Aussicht war fantastisch. Ganz links konnte man noch knapp das Meer sehen und ganz rechts die noch verschneiten Bergkuppen der Sibillini-Berge und des Apeninns. Dazwischen viele Hügel, gekrönt mit anderen Hügeldörfern.
Mit Castelfidardo stand dann noch ein solches Hügeldorf in meiner Routenplanung. Also runter in ein Tal und auf der Gegenseite wieder hochkurbeln. So langsam spürte ich meine Beinmuskulatur... und auch im Kopf war ich nicht mehr wirklich frisch. Irgendwie habe ich mich verfahren, kam einfach nicht wirklich in den historischen Ortskern und schon ging es wieder bergab und ich hatte keine grosse Lust um wieder umzukehren. Ich wusste ja, nach Castelfidardo geht es die letzten knapp 20 Kilometer nur noch runter ans Meer und dann flach bis nach Porto Recanati. Und so kam es dann auch.
An der Küstenstrasse reiht sich ein Strandbad an das nächste. Aktuell putzen die Besitzer ihre Geschäfte, verankern Schirme am Strand und bereiten die kommende Sommersaison vor. Derzeit sieht man nur wenige Menschen am Strand und kaum jemand im Wasser. Dafür sind die angezeigten 24 Grad noch zu frisch und auch das adriatische Meer dürfte noch ziemlich kalt sein. Landeinwärts der Strasse führt ein schöner Radweg und man sieht dann häufig Parkplätze, Diskotheken, Sportanlagen, Kartbahnen oder sonstige Freizeitangebote. Mir dämmert langsam, dass hier im Hochsommer wohl die Post abgeht. Und à propos Radweg: Da muss man vorsichtig sein, denn mitten auf dem Radweg sind Schilder angebracht die anzeigen, dass dies ein Radweg ist. Der Radweg ist geschätzte zwei Meter breit. Dort wo die Pfosten für die Tafeln stehen halt nur noch zwei mal einen Meter. Welcher Schreibtischtäter hat sich so etwas ausgedacht? Das musste ich echt fotografieren.
Schon nach drei Uhr mittags erreiche ich Porto Recanati, mein Tagesziel. Hier wird der Radweg zu einer breiten Strandpromenade, die durch die ganze Ortschaft führt. Jetzt ist das der pure Luxus, im Hochsommer wohl eher ein Slalom zwischen den Fussgängern hindurch. Weil ich noch viel Zeit hatte, fuhr ich am Hotel vorbei und erkundete die Ortschaft noch etwas. Das gefällt mir eigentlich ganz gut hier. Ein bunter Mix aus alt und neu und natürlich auch mit vielen Ferienwohnungen, an denen die Fensterläden noch geschlossen sind. Ich gönne mir ein erstes Gelati am Strand und schaue zufrieden auf Meer hinaus.
Ich habe den gestrigen Ärger schon fast vergessen. Doch nur fast. In der Fronttasche waren auch zwei paar Rad-Handschuhe und auf der heutigen Fahrt musste ich feststellen, dass ich nicht gerne ohne Handschuhe fahre. Ich warf also das Smartphone an, machte eine Google-Suche und schon bald stand ich in einem Radgeschäft und kaufte mir ein neues paar Handschuhe. Dann machte ich mich auf den Weg ins Hotel. Ein erster schöner Radtag neigt sich dem Ende entgegen...
Unter diesem Link findet man die heutige GPS-Aufzeichnung. Und hier noch der Link zum Fotoalbum des heutigen Tages.