Heute Nachmittag hatte ich einen Termin bei der Dentalhygienikerin was für mich so etwas wie die Höchststrafe bedeutet. Ich gehe zu wenig, nämlich höchstens jährlich, und wenn ich dann behandelt werde, gibt es jede Menge Zahnstein, die höchst schmerzhaft abgekratzt oder per Ultraschall weggesprengt werden muss. Da wird dem Zahnhals entlang bis unter das Zahnfleisch geschabt und dabei kullern mir regelmässig Tränen des Schmerzes über die Wangen. Ich weiss... wehleidiger Schwächling 🤨.
Dank Corona konnte ich den Termin immer wieder herauszögern und somit waren seit der letzten Behandlung fast 18 Monate verstrichen. Ich wusste also: das wird ein Massaker. Gnadenlos, blutig und schmerzhaft. Doch, da führt halt kein Weg dran vorbei.
Ich versuchte es heute mit "Nicht-Identifikation". Ich spürte Schmerz, doch es war nicht "mein" Schmerz. Es war einfach nur Schmerz... und Schmerz vergeht... also die verkrampften Hände wieder lösen... gleichmässig atmen... es ist, wie es ist... Ohmmmm...
Seit geschätzten 20 Jahren besuche ich die gleiche Zahnarztpraxis. In dieser Zeit wechselte sie drei Mal die Besitzer und den Namen. Demzufolge bohrten schon mindestens drei verschiedene Zahnärzte in meinen Zähnen rum und dutzende von Zahnarzthelferinnen und Auszubildende kamen und gingen. Die einzige Konstante in all den Jahren ist die Frau Dentalhygienikerin, die mich regelmässig zu Tränen rührt. Ich finde das bemerkenswert. Erstens, weil sie schon mehrere Chefs, Cheffinnen und Organisationsformen überlebte und zweitens, weil es völlig ausserhalb meiner Vorstellungskraft liegt, wie man über 20 Jahre diesen Job ausüben kann.
Eh bien... das war nun alles Vorgeplänkel. Also: Ich sitze auf dem Zahnarztstuhl, meine Dentalhygienikerin kratzt mir an den Zähnen rum, ich versuche den Schmerz zu ignorieren und plötzlich fragt Sie: "Sind Sie gläubig?" Wohlverstanden: Ausser Grüezi, auf Wiedersehen, Zahnseide und Röntgenbild wechselten wir in den vergangenen 20 Jahern wohl kaum noch zusätzliche 100 Wörter. Und dann so etwas! Wie kann man jemandem so eine Frage an den Kopf werfen, der nicht antworten kann, weil er den Mund aufsperren muss und sie darin rumfummelt? Am liebsten hätte ich laut losgelacht, doch das ging ja nicht...
Diese Frage ist viel zu komplex, als dass man sie einfach mit Ja oder Nein beantworten könnte. Man müsste zurückfragen können, was sie darunter verstehe um dann eine entsprechende Antwort geben zu können. Im gegebenen Kontext ging ich -der Einfachheit halber- davon aus, dass sie wohl einen christlichen Gott meint und ich antworte mit einem gequält lächelnden "Nein". Worauf Sie weiter meine Zähne bearbeitet und sagt: "Dann glauben Sie also an Zufall." Ich antworte nicht, denn so einfach ist es ja dann doch nicht. Sie fährt fort: "Nehmen Sie einfach mal an, dass sie frei wählen können. Wären Sie dann lieber ein Zufallsprodukt oder ein geliebter Sohn Gottes, dem das Leben mehr zu bieten hat als die irdischen 70 oder 80 Jahre?"
Nun nimmt sie ihr Besteck aus meinem Mund und gibt mir die Chance zu antworten. Worauf ich sage: "Das kann man so nicht beantworten, denn es setzt voraus, dass man glauben würde, dass es einen solchen (christlichen) Gott tatsächlich gibt. Wenn man diese Annahme ablehnt, heisst das aber noch nicht, dass alles rein zufällig passiert. Zwischen weiss und schwarz gibt es noch unendlich viele Schattierungen." Sie poliert daraufhin meine Zähne weiter auf Hochglanz und das Gespräch verstummt.
Ich schmunzle noch immer... Ja, ich bewunderte schon immer Menschen, die sich voll und ganz einem (anerkannten) Glaubenssystem hingeben. Egal welchem. Das braucht Entschlossenheit, Überzeugung, Wille und Training. Da zolle ich ehrlichen und vollen Respekt. Es geht mir erst dann auf die Nerven, wenn ein dogmatischer Alleingültigkeitsanspruch in den Raum gestellt wird, mit dem alle Andersgläubigen disqualifiziert werden. Doch das war hier ja nicht der Fall. Es trat eine angenehme Stille ein, die uns beiden jede geistige Freiheit liess. 🙏